Eben noch waren sie Frankreichs beste Deutschlehrer und Deutschlands Sprachrohr Nummer eins für die französische Jugend. Jetzt klingt nur noch ihr Echo nach, doch dringt es nicht mehr durch.
Die große Zeit von Tokio Hotel in Frankreich scheint vorbei zu sein. Versetzten die vier Jungmusiker um Frontmann Bill Kaulitz in den vergangenen Jahren vor allem junge Mädchen in Zustände von Entzücken bis Hysterie, so sind diese inzwischen erwachsen geworden oder haben sich anderen Idolen zugewandt.
Bei einem Auftritt im Pariser Stadion von Bercy, das 17 000 Plätze fasst, spielte die Gruppe in dieser Woche vor „nur“ 10 000 Fans, obwohl der Vorverkauf bereits im Oktober begonnen hatte. Frühere Konzerte in größeren Hallen waren hingegen in kürzester Zeit ausverkauft. Ein hartnäckiger Kern überwiegend weiblicher Fans zeltete zwar auch diesmal vor dem Pariser Hotel, in dem Bill, Tom, Gustav und Georg übernachteten. Doch der große Hype sei Vergangenheit, sagt Pierre Veillet, Chefredakteur des französischen Musikmagazins „Rock One“. „Es ist das erste Mal, dass wir ein Phänomen so schnell sich verflüchtigen sehen“, staunt der Journalist.
Das dritte Album „Humanoid“, das im vergangenen Jahr erschien, erreichte in den französischen Charts nur noch Platz 148, knapp 30 000 Alben wurden verkauft. Zum Vergleich: Von ihrem Debüt „Schrei“ gingen 250 000 Exemplare über die französischen Ladentische. Es stieg sofort in die französischen Top 20 ein und erhielt die Goldene Schallplatte in Frankreich. Das war keiner deutschen Band zuvor gelungen. Bekannt waren bis dahin höchstens Nena mit ihren „99 Luftballons“ und die Hardrocker „Rammstein“, deren brutal-grölende Musikalität für viele Franzosen die harte deutsche Sprachmelodie verkörpert. Bands wie „Wir sind Helden“ oder „Juli“ konnten sich in Frankreich nicht durchsetzen. Erst der lyrische Rock von Tokio Hotel traf einen Nerv. Viele Jugendliche fanden sich wieder in den Texten über Liebeskummer, Schulprobleme oder jugendlichen Weltschmerz. Hinzu komme die außergewöhnliche Ausstrahlung von Frontmann Bill Kaulitz, schreibt der Autor Enguerrand Sabot in einem Buch über die Band: Der auffällig geschminkte Stachelkopf trete als echte Persönlichkeit auf mit seinem schwarzen, androgynen Look, „halb Manga, halb neogotisch“. Eine Exotik, die bei den jungen Französinnen ankam.
Präsident Sarkozy dürfte sich bei ihnen besonders beliebt gemacht haben, als er Tokio Hotel am Nationalfeiertag 2007 unter dem Eiffelturm spielen ließ. Von Sommer 2006 bis 2008 habe ein Bild von Bill und seinen Musikerkollegen auf der Titelseite den Verkauf des Magazins um 30 bis 40 Prozent gesteigert, sagt Veillet. Die deutsche Sprache, die seit den 90er Jahren immer unbeliebter bei den französischen Schülern geworden war, erlebte eine erstaunliche Renaissance: Die Anmeldezahlen für Deutsch-Klassen stiegen vor allem in Grundschulen wieder an, das Goethe-Institut in Paris verzeichnete einen Ansturm auf seine Sprachkurse.Viele Lernwillige trieb der Wunsch, die sehnsüchtigen Texte von Tokio Hotel verstehen und mitsingen zu können.
Unverhofft wurden die vier Jünglinge aus der Nähe von Magdeburg so zu inoffiziellen Botschaftern der deutschen Sprache und Kultur in Frankreich. „Dank Tokio Hotel klingt die deutsche Sprache für mich heute melodisch“, schreibt eine Anhängerin auf der Homepage – von der es eine französische Version gibt, ebenso wie ein deutsch-französisches Wörterbuch für Tokio Hotel-Fans. Auch die deutsche Sprache ist wieder auf dem Rückzug: Junge Franzosen lernen Spanisch und hören französische Chansons.
0 Response to "suedkurier.de - Bills große Zeit ist vorbei"
Een reactie posten